Medizinnobelpreis 1908: Ilja Metschnikow — Paul Ehrlich

Medizinnobelpreis 1908: Ilja Metschnikow — Paul Ehrlich
Medizinnobelpreis 1908: Ilja Metschnikow — Paul Ehrlich
 
Die beiden Immunologen aus Russland und Deutschland erhielten den Nobelpreis für ihre Leistungen zur Erforschung des Immunsystems.
 
 Biografien
 
Ilja Iljitsch Metschnikow, * Iwanowka (Ukraine) 15. 5. 1845, ✝ Paris 15. 7. 1916; 1867-82 Dozent und später Professor der Zoologie in Sankt Petersburg und Odessa, 1882-86 Veröffentlichung einer Reihe von Aufsätzen über Fresszellen, 1886-87 Leiter des immunologischen Instituts in Odessa, ab 1888 Forscher am Institut Pasteur in Paris.
 
Paul Ehrlich, * Strehlen (heute Strzelin in Polen) 14. 3. 1854, ✝ Bad Homburg v. d. Höhe 20. 8. 1915; ab 1885 Professor der Medizin in Berlin, Göttingen und Frankfurt am Main, ab 1899 Leiter des Instituts für experimentelle Therapie in Frankfurt, ab 1906 Leiter des Georg-Speyer-Hauses in Frankfurt.
 
 Würdigung der preisgekrönten Leistung
 
Im Winter 1882/83 machte der Zoologe Ilja Metschnikow eine für die Entstehung der modernen Immunologie wegweisende Beobachtung. Er sah, wie sich einzelne Zellen im gallertartigen Körper einer Seesternlarve zu einem dorthin eingedrungenen Fremdkörper bewegten, denselben belagerten und schließlich durch Auflösung zerstörten. Er löste den Vorgang dieser Zellwanderung wiederholt im Experiment aus und verfolgte den Prozess unter dem Mikroskop. Damit war an einem einfachen Organismus die Abwehr von Eindringlingen durch körpereigene Zellen festgestellt worden.
 
 Seesternlarven und Phagozytose
 
Bis zu diesem Zeitpunkt hatte Metschnikow mehrere schwere Schicksalsschläge hinnehmen müssen. Als 17-jähriger begann er an der Universität Charkow (Ukraine) das Studium der Zoologie. Nach einem Forschungsaufenthalt in Westeuropa war er an den Universitäten von Sankt-Petersburg und Odessa als Zoologiedozent tätig. Nach der Ermordung Alexanders II. und den folgenden politischen Spannungen ließ er sich 1882 als Privatgelehrter in Italien nieder. Seine erste Frau Ludmila war 1873 nach fünfjähriger Ehe an Tuberkulose gestorben; seine zweite Frau Olga erkrankte 1880 an Typhus. Der mitunter von Selbstmordgedanken geplagte, an Sehschwäche und Herzstörungen leidende Metschnikow spritzte sich eine Blutprobe seiner Frau, um im Selbstexperiment die Übertragung von Typhus über das Blut nachzuweisen. Der Nachweis gelang — Metschnikow war einige Monate krank, erlag dem Leiden aber nicht.
 
Die Beobachtung der Abwehrreaktion in den Seesternlarven veränderte schlagartig seine Lebenseinstellung. Er wandelte sich vom Zoologen zum Pathologen und wurde zum leidenschaftlichen Verfechter immunologischer Forschung.
 
Nach Odessa zurückgekehrt leitete Metschnikow das dortige Institut für Immunologie, gab die Stelle jedoch nach internen Spannungen resigniert ab. Geeignete Forschungsmöglichkeiten fand er schließlich bei Louis Pasteur in Paris, der ihm in seinem Institut ein Labor zur Verfügung stellte.
 
Das an den Seesternlarven beobachtete Verhalten der wandernden Fresszellen (Phagozyten) musste auch an anderen, komplexen Organismen nachgewiesen werden. Durch unzählige Versuche mit diversen Krankheitserregern vervollständigte Metschnikow nach und nach die Kenntnis jener Prozesse, die zwischen Erregern und den vom Organismus zur Abwehr aufgebotenen Phagozyten stattfinden. Es stellte sich heraus, dass Phagozyten dazu in der Lage sind, Erreger zu verschlingen, die von Bakterien freigesetzten Giftstoffe wirkungslos zu machen und zudem auch Gifte nichtbakteriellen Ursprungs erfolgreich zu bekämpfen.
 
In seiner letzten Lebensphase wandte sich der Gelehrte den Voraussetzungen einer erfolgreichen Abwehr von Erregern zu, erforschte einige Blutkrankheiten und entwickelte eine Ernährungslehre, die auf dem Prinzip beruht, dass das durch körpereigene Gifte bedingte Altern durch die richtige Diät verlangsamt werden könne.
 
 Ehrlichs biochemischer Ansatz
 
Paul Ehrlich entwickelte seinen immunologischen Ansatz unter den Vorzeichen der Biochemie. Während des Medizinstudiums an den Universitäten von Strasbourg, Breslau (heute: Wroczlaw) und Leipzig beschäftigte er sich besonders mit Färbungstechniken und erwarb hervorragende Chemiekenntnisse. Eine Abhandlung über die unterschiedliche Verteilung von Blei im bleivergifteten Organismus legte ihm die Hypothese nahe, dass Gewebe mal mehr, mal weniger die mit ihnen in Berührung kommenden Substanzen aufnehmen. So untersuchte er anhand injizierter Farbstoffe das Sauerstoffbedürfnis einzelner Organe, um sich danach der Erforschung der Affinität, also der chemischen Verwandtschaft, zwischen roten Blutkörperchen und bestimmten Farbstoffen zu widmen. Gleichgültig, ob Sauerstoff, Farbstoffe, Giftstoffe oder Nährstoffe vom Organismus verarbeitet werden: Für Ehrlich handelte es sich jeweils um Spielarten des chemischen Materieaustauschs auf molekularer Ebene.
 
Ehrlich spezialisierte sich weiter auf die Erforschung der zwischen Erregern und körpereigenen Zellen ablaufenden Stoffwechselmechanismen. Die dabei erworbenen Kenntnisse bestärkten ihn in der Annahme, dass eine rationale Chemotherapie verwirklicht werden könne. Als der Hebel dieser Chemotherapie erwies sich die ursprünglich von August Kekulé entwickelte, von Ehrlich auf seine Belange zugeschnittene Hypothese, dass das Protoplasma der lebenden Zellen aus (Riesen-) Molekülen mit einem relativ festen Kern und relativ instabilen Seitenketten besteht und dass sich der Stoffwechsel in Form chemischer Reaktionen an diesen Seitenketten vollzieht. Da Seitenketten sowohl auf Giftmoleküle wie auch auf Nährstoffmoleküle anzusprechen schienen, formulierte Ehrlich das Grundgesetz der Zellteilfunktion: Lebende Zellen zeichnen sich durch eine große Zahl einzelner Teilverrichtungen aus.
 
Aufgrund dieser Theorie, die von nur wenigen Zeitgenossen für richtig befunden wurde, suchten Ehrlich und seine Mitarbeiter Aufklärung darüber zu erlangen, welche chemischen Merkmale der von den Krankheitserregern erzeugten Giftstoffe (Toxine) körpereigene Zellen ansprechen und dort die Herstellung von Gegengiften (Antitoxine) anregen würden. So gelang 1910 im Fall der Syphilis nach tausenden von Versuchen und nach der Erprobung von 605 verschiedenen Substanzen die Zerlegung dieser vertrackten Zusammenhänge: Mit der 606. getesteten und später unter der Bezeichnung »Salvarsan« vermarkteten, arsenhaltigen Substanz war ein Heilmittel gefunden worden, dessen Giftigkeit sich gegen den Erreger und nicht mehr gegen den erkrankten Organismus richtete. Da allerdings bald klar war, dass die Erreger bei der Verabreichung zu geringer Salvarsandosen resistent wurden, entwickelte Ehrlich ein verwandtes Nachfolgepräparat, das »Neosalvarsan, das ihm uneingeschränkte Anerkennung einbrachte.
 
Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs stürzte den unermüdlichen Forscher in eine tiefe Depression. Er erlitt einen leichten Herzinfarkt, kränkelte und starb an den Folgen eines zweiten Herzinfarkts während eines Erholungsurlaubs in Bad Homburg.
 
A. Métraux

Universal-Lexikon. 2012.

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